Leseproben


Das Vermächtnis der Rephaim - Initiation  Leseprobe zu Buch 1

Prolog

***

Nein. Nein, nein, nein, nein! Sie durften nicht … Sie konnten nicht … Er war noch nie in seinem Leben derart schnell gerannt oder geflogen. Das konnten sie nicht tun! Die Stimmen wurden lauter. Er hörte das Klirren von Waffen, von Rüstungen, die aneinander schlugen. Unbarmherzig gebrüllte Befehle.

Der Auflauf an Leuten auf dem Richtplatz war überwältigend. Und das nicht auf eine gute Art und Weise. Er schob sich durch die Menge, Ellbogenstöße links und rechts in die umstehende Masse verteilend, bis er die vorderste Reihe erreichte. Was er sah, nahm ihm den letzten noch verbliebenen Atem.

Der Seraphim auf dem Richtplatz war an Armen und Beinen angekettet. Die Glieder gespreizt, an jedem seiner sechs Flügel ein himmlischer Wächter. Seine ehemaligen Kollegen. Gefühllos standen sie da, eisig und entschlossen in die Menge blickend.

»DANJAL!«

Seine Stimme war ein Verzweiflungsschrei. Sie konnten das nicht tun, nicht deswegen … Nicht seinen besten Freund! Einer der Wächter ruckte mit dem Kopf, ein anderer nickte und kam mit seinem Kollegen auf ihn zu. Er musste zu ihm! Er musste ihm helfen, was es ihm auch abverlangte. Die wenige Zeit, die er mit der Erfüllung seiner eigenen Wünsche zugebracht hatte, durfte Danjal jetzt nicht das Leben kosten! Wenn sie ihn doch nur zu einem Menschen machen würden … Wenn es nur das wäre! Er schob sich weiter nach vorne – und Plattenhandschuhe schlossen ihren Griff um seine Arme.

»Zurück.«

»Lasst mich los!«

Die Wächter beachteten ihn gar nicht erst. Ihre Waffenbrüder griffen nach den Flügeln des Seraphim in Ketten. Packten die Flügelansätze an seinem Rücken und zogen. Sein Schrei zerriss die Himmel. Blut strömte golden auf den Marmorboden und ein Sturm aus Federn schwebte hinab. Der Seraphim hing in seinen Ketten. Blutend. Atemlos. Dem Tode geweiht.

»NEIN!« Unbändiger Zorn ergriff von ihm Besitz. Verzweifelt wehrte er sich mit Händen und Flügeln gegen den eisigen Griff der Wachen, die ihn immer noch niederzwangen. In goldenen Bächen floss Danjals Blut über dessen Rücken auf den weiß schimmernden Marmor unter ihm, während der heilige Funke des Lebens in seinen Augen erlosch. »Ihr Bastarde!«, knurrte er und verpasste dem Wächter zu seiner Linken einen heftigen Schlag gegen die Kehle. Dieser zuckte vom plötzlichen Schmerz gepeinigt zusammen und ließ ihn nur für einen kurzen Augenblick los. Er nutzte seine Chance und legte noch einmal all seine Kraft in einen weiteren Angriff gegen den zweiten Wächter. Niemand tötete seinen Freund und kam ungeschoren davon. Nicht, wenn er es verhindern konnte! Entschlossen griff er nach dem goldenen Schwert des Wächters, zog es aus seiner Scheide am Gürtel und hob es in die Luft. Mit einer himmlischen Klinge könnte er Danjals Fesseln zerschmettern. Seinen Freund befreien und mit ihm fliehen. Bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, hob Danjal den Kopf und blickte seinen Freund aus trüben Augen warnend an. Kopfschüttelnd ließ dieser das Schwert sinken, als er die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens erkannte. Er wusste, was Danjal ihm mit diesem Blick sagen wollte und er erinnerte sich an das Versprechen, welches er seinem Freund gegeben hatte. Was nicht bedeutete, dass ihm dieser Schritt leicht fallen würde. Alles in ihm sträubte sich dagegen, Danjal seinem Schicksal zu überlassen, während er sich selbst in Sicherheit brachte. Auch wenn er erkannte, dass er für Danjal nichts mehr tun konnte. Für dessen Kind jedoch schon. Er hob das Schwert ein weiteres Mal und sein Herz brach entzwei. Zersplitterte wie die Rüstungen der Wächter, die er mit der Kraft der Verzweiflung einfach aus seinem Weg schlug. Diesmal jedoch nicht um Danjal zu befreien, sondern um sich selbst einen Weg an den Wächtern vorbei, aus dem Himmel heraus zu erkämpfen. Mit einem erschöpften Lächeln auf den Lippen holte Danjal ein letztes Mal Luft, bevor er endgültig zusammenbrach.

 

Gierig wie ein verhungernder Wolf fraß sich der Schmerz durch ihre Eingeweide. Selbst durch die energetische Barriere des Himmels hindurch, spürte Dialen die Schmerzen ihres leidenden Gefährten in ihrem Herzen. Seine körperliche Qual und die schleichende Kälte, die in seine Glieder kroch, fanden ihren Weg bis hinunter in die Hölle und brachten Dialen die traurige Gewissheit, dass er sterben würde. Ihr Gefährte. Die Liebe ihres Lebens, von der sie geglaubt hatte, ihrer nie würdig zu sein. Nicht einmal die Hitze hier unten vermochte ihre innere Kälte zu lindern. Blutrote Tränen rannen über Dialens Wangen und tropften auf die sanfte, kaum erkennbare Wölbung ihres Bauches. Wo sollte sie hin? Hier konnte sie auf keinen Fall bleiben. Was, wenn Luzifer ihre Schwangerschaft bemerkte? Er würde nicht zögern sie zu töten. Entweder um schon jetzt an das Kind heranzukommen oder kurz nach der Geburt. So oder so war sie des Todes – und das Kind verloren. Es sei denn … Es sei denn, sie fände einen Weg, unbemerkt aus der Hölle heraus zu kommen um sich in der Welt der Menschen zu verstecken. Wenigstens so lange, bis ihr Kind geboren war. Denk nach, Dialen. Wen könntest du um Hilfe bitten? Hier unten durfte sie niemandem vertrauen. Grübelnd schritt sie durch ihre privaten Gemächer auf den großen, offenen Balkon und ließ ihren Blick über die rot glühenden Lavaflüsse gleiten, die sich wie pulsierende Adern über die weite Ebene unter ihr erstreckten. Seit sie denken konnte, lebte sie hier unten. Ihre Eltern waren stolze Dämonen gewesen. Obwohl ihre Mutter nur eine einfach gehörnte Dunkle gewesen war, hatte ihr Vater sie in sein Bett genommen und ihr gestattet, seinen Samen auszutragen. Es kam nicht oft vor, dass ein mehrfach gehörnter Schwarzer eine einfache Dunkle in sein Bett nahm. Oft überlebten diese Frauen eine Nacht mit einem schwarzen Dämon nicht. Und wenn doch, starben sie unter den Strapazen der Geburt des kleinen Dämons. Ihre Mutter war anders gewesen. Rhaja hatte bei ihm gelegen und nicht nur die Paarung überlebt, sondern ihm sogar eine Tochter geboren. Und genau diese Tochter trug jetzt das Ungeborene eines Seraphim unter ihrem Herzen.

 

Er wusste, was zu tun war. Zu bleiben kam nicht infrage. Für einen Engel gab es nicht viel zu packen. Alles, was er besaß, waren er selbst und seine Wohnung im Himmel – und in die würde er niemals mehr zurückkehren. Ihm blieb nur ein Weg, das auszuführen, worum ihn Danjal gebeten hatte, bevor er sterben würde. Seine Macht zu behalten, um es zu tun. Seine eigene Herrin hatte ihm gesagt, er könnte gehen – wenn er gehen musste. Wenn sie wüsste, wohin er wollte, hätte sie ihn sicherlich nicht so leicht ziehen lassen. Niemals hätte er sich träumen lassen, eines Tages vor den Toren zur Hölle zu stehen, geschweige denn sie freiwillig zu durchschreiten. Und doch war er hier. Ein Meer aus Rot und Scharlach hüllte ihn ein. Die Hitze versengte ihm die blendend weißen Flügel und die Asche färbte sie schwarz. Es gab kein Zurück mehr. Nicht von hier.

 

***

Endlich war die Nacht über dem großen Haus hereingebrochen und hüllte das herrschaftliche Anwesen in eine schützende Aura aus Dunkelheit. Weder Mond noch Sterne erhellten den Himmel; selbst die Tiere und Geister, die hier lebten, schwiegen still. Sie alle warteten gespannt auf den ersten Schrei des neuen Lebens, das sich bereits vor Stunden auf den Weg gemacht hatte. Einhundert Kerzen erhellten den kleinen Raum im ersten Stock des Hauses und malten lange Schatten an die Wände. Als plötzlich ein Schrei die trügerische Idylle zerriss und alles Leben bis ins Mark erschauern ließ.

 

Dunkelheit umfing auch Dialens müden Geist, während sie ein letztes Mal ihren Schmerz heraus schrie und das klägliche Wimmern eines Neugeborenen den Raum erfüllte. Erschöpft und blass, doch mit einem schwachen Lächeln auf den aufgesprungenen Lippen, sank sie in die Kissen zurück und streckte ihre zitternden Hände nach dem kleinen blutverschmierten Bündel aus.

»Bitte, gib sie mir. Meine kleine Tochter.«

Das kleine Mädchen war alles, was ihr von ihrer Liebe geblieben war. Alles, wofür sie in den letzten Monaten gelebt, überlebt und gekämpft hatte. Jetzt forderten all diese Strapazen ihren Tribut und verlangten das größte Opfer, das sie zu geben bereit war. »Achte gut auf sie«, bat Dialen ihren einzigen Freund und treuen Helfer, der an ihrer Seite geblieben war. »Versprich es mir! Sie darf NIEMALS erfahren, wer sie wirklich ist! Sie soll ein unbeschwertes, glückliches Leben fernab der Welt der Magie, des Himmels und der Hölle haben.« Sanft küsste sie das kleine schwarzhaarige Mädchen auf die rosige Wange, als eine Träne in das schwarze, flauschige Haar des neugeborenen Mädchens tropfte. Einmal noch holte Dialen tief Luft und sog den Duft ihrer kleinen Tochter in sich auf, bevor ihr Kopf zur Seite kippte und sie für immer die Augen schloss.

 

Er sagte kein Wort. Er hatte geahnt, was kommen würde, je weiter ihre Schwangerschaft fortgeschritten war. Behutsam nahm er das Neugeborene von der Brust seiner Mutter und wickelte es in ein Tuch. Es blieb keine Zeit, die Riten durchzuführen. Nicht jetzt. Der dunkle Engel trat aus dem Haus, das kleine Bündel sicher im Arm, und breitete die Flügel aus. Es gab nur einen Ort, an dem dieses Kind sicher sein würde. Für eine gewisse Zeit jedenfalls. Verborgen vor den Augen der Engel und der Dämonen. Die Gegend, in der er landete, war nicht sonderlich einladend, aber das Sicherste, was er ihr bieten konnte. In menschlicher Gestalt, als hochgewachsener Mann in einem dunklen Mantel, klopfte er an eine Tür. Eine Frau öffnete sie, ihn bereits erwartend.

»Ist das…?«

Ein Nicken. Sie streckte die Arme aus und er überreichte ihr sorgsam das Kind.

»Und… ihre Mutter…?«

Ein Kopfschütteln.

Die Frau senkte den Kopf und er beugte sich vor, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Du bist ihre Wächterin. Enttäusche mich nicht.«

 

 

Kapitel 1

***

»Hey, schau mal einer an! Wen haben wir denn da?«, tönte die fiepsige Stimme eines jungen Kerls mit kastanienbraunem Haar, schiefer Nase und blasser Haut, den Tris nie zuvor gesehen hatte. Mina und sie waren nach ihrem Stadtbummel mit der Hochbahn unterwegs nach Hause, als eine Gruppe jugendlicher Unruhestifter ihr Abteil betrat. Dummerweise saßen die beiden Frauen direkt neben der Tür zum Übergang in das nächste Abteil, so dass die Kerle gleich auf sie aufmerksam wurden. »Zuerst nehm’ ich die Rothaarige. Und wenn ich mit ihr fertig bin, ist die da dran.« Er zeigte auf Mina und anschließend auf Tris. »Verpisst euch!«, schimpfte Tris.

»Halt’s Maul, du Schlampe.«, mischte sich der linke der beiden anderen Kerle ein, der nicht minder unsympatisch wirkte. Er hatte lohblondes Haar und große blaue Augen, die hinter den dicken Gläsern seiner Brille eher an Glupschaugen erinnerten. Nur der rechte von den Dreien war einigermaßen ansehnlich mit seinem pechschwarzen Haar, den kornblumenblauen Augen und einem sinnlich geschwungenen Mund. »Ja, du kommst auch noch dran«, fiel der Dritte mit ein. Tris’ Wut brodelte gefährlich dicht unter ihrer Haut, was für sie eigentlich ungewöhnlich war. Tris ging selten aus sich heraus. Wirkte nach außen hin eher schüchtern und harmoniebedürftig. »Ich sagte, verpisst euch!«, knurrte sie regelrecht, als das Licht im Zug zu flackern begann. Mina wurde unruhig. »Tris, lass das. Sicher gehen sie einfach weiter, wenn wir sie nicht beachten.« Zumindest hoffte Mina das. Auch, wenn sie sich kaum Chancen ausrechnete, dass es tatsächlich so war. Ehe sie es sich versah, packte der Wortführer Mina an der Schulter, drückte sie tiefer in den Sitz und kam ihrem Gesicht mit seinem viel zu nah. Seine eklige, feucht schimmernde Zunge schnellte hervor, dann leckte er Mina über die Wange. »Mhmm, schmeckt nach mehr«, prahlte er mit hörbarer Vorfreude in der Stimme. Mina schrie entsetzt auf, konnte sich jedoch nicht gegen den festen Griff ihres Peinigers wehren. Tris erhob sich, warf ihr hüftlanges schwarzes Haar über die Schulter und funkelte den Mistkerl aus ihren eisblauen Augen an. Im nächsten Augenblick ließ sie ihrer Wut freien Lauf. Tris’ Gesicht glühte, als sei sie fiebrig. In ihren Augen funkelte die pure Mordlust. »Ich sagte – VERPISST EUCH!«, brüllte sie und schubste das Ekelpaket von ihrer Freundin weg. Gleichzeitig explodierten alle Fenster im Zugabteil. Das Licht flackerte erneut, dann erlosch es und der Zug legte eine Notbremsung ein. »Was zum Teufel! Das is’ die, die da!«, stammelte einer der Jungs und deutete mit Entsetzen auf Tris. »Die is’ nicht normal! Lasst uns abhauen!«, fluchte der Anführer der Bande und stürzte allen voran aus dem Abteil. Tris bekam von all dem nichts mehr mit. Auch nicht, als zersplittertes Glas durch die Luft flog und auf sie alle nieder regnete. Ein seltsamer Schimmer lag auf Tris’ Körper und ihr Haar tanzte wie von Geisterhand getragen in der Luft. »Tris, komm! Wir müssen hier verschwinden!«, rief Mina ihrer Freundin zu und versuchte sich hinter eine Sitzbank zu ducken. Tris jedoch stand wie betäubt inmitten des Scherbenregens und starrte aus rot glühenden Augen ins Leere. »Verdammt, Tris. Komm schon!«, flehte Mina verzweifelt. Rasch schlüpfte sie aus ihrem Versteck und trat auf ihre Freundin zu, ohne auf deren verändertes Aussehen zu achten. »Komm jetzt!«, schimpfte sie, griff nach ihrer Hand, zuckte erschrocken zusammen und flog zwei Meter quer durch das Abteil zurück.

»Was…?«, krächzte sie und fand sich mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand des Abteils auf dem Boden wieder. Der Aufprall war heftig gewesen. Was verdammt noch mal war gerade passiert? Was ging mit ihrer Freundin Tris vor sich, fragte Mina sich benommen. Totenstille lag über dem Zugabteil, als Mina sich mühsam aufrappelte. Sie schmeckte Blut. Tris hingegen sackte völlig entkräftet auf die Knie. Kippte vornüber und war bewusstlos, noch bevor ihr Gesicht den Boden berührte. Erschrocken krabbelte Mina zu ihrer Freundin. Glasscherben schnitten in ihre Handflächen und trieben ihr vor Schmerz die Tränen in die Augen, doch sie ignorierte es tapfer.

»Wach auf! Bitte, Tris«, flehte Mina ihre bewusstlose Freundin an. Rüttelte an ihrer Schulter und versuchte, sie auf den Rücken zu drehen. Beim zweiten Versuch gelang es ihr endlich. Doch Tris war immer noch bewusstlos. Seitlich über ihrer linken Augenbraue klaffte eine kleine Wunde. Dunkelrotes Blut klebte in Tris’ schwarzem Haar. Etwas davon sickerte sogar auf den Boden. Mina wurde unruhig. Warum kam niemand, um ihnen zu helfen? Um sie herum herrschte absolute Stille. Weder Feuerwehr noch die Polizei waren in der Ferne zu hören. Wo blieb die Schar von neugierigen Menschen, die sich für gewöhnlich um den Unglücksort scharten? Heute hätte Mina ausnahmsweise nichts gegen ein wenig Normalität einzuwenden. Sie wusste nicht warum, aber diese ganze Sache, dieser Ort, fühlte sich unwirklich an. So sehr, dass sie am liebsten auf der Stelle aus dem Zug geflüchtet wäre. Sie wollte diesen schrecklichen Ort verlassen – und Tris. Die ihr ehrlich gesagt eine Scheißangst einjagte. Vielleicht war das gar keine so dumme Idee. Aber konnte sie Tris einfach hier liegen lassen? Wer wusste schon, wann sie wieder zu sich kommen würde? Immerhin war sie verletzt. Und dann auch noch am Kopf. Kurzentschlossen rappelte sich Mina auf und klopfte ihre Kleider ab. Glassplitter und Staub rieselten aus den Falten ihrer Jacke.

»Ich gehe und hole Hilfe, hörst du? Ich komme wieder«, versprach sie feierlich. Warf einen letzten Blick auf die bewusstlose Tris und stürzte davon.

 

***

Es hätte eine normale, für gewöhnlich unspektakuläre Patrouille werden sollen. Als Tyne aufgestanden war, hatte er damit gerechnet sich wieder den ganzen Tag die Beine in den Bauch zu stehen, um sich zu Tode zu langweilen – sofern das bei einem Engel eben möglich war. Aber es würde anders kommen. Die momentan unsichtbaren Flügel auf seinem Rücken zusammengefaltet, saß er auf einem der niedrigeren Häuserdächer Seattles und starrte nach unten in das rege Treiben. Hielt nach irgendetwas Ungewöhnlichem Ausschau. Die Auren der Menschen zogen an ihm vorbei, unauffällig und langweilig wie immer. Sicher, der ein oder andere potenzielle Verbrecher war darunter, aber sich darum zu kümmern, war nicht Tynes Aufgabe. Er suchte nach Nephilim. Den Kindern aus einer kurzfristigen Verbindung zwischen einem Engel und einem Menschen. Wie so oft ohne jeden Erfolg. Frustriert zuckten die Spitzen seiner Flügel. Tyne veränderte seine Position und machte es sich auf dem Dach bequem. Sollte der Tag nur so weiter gehen. Wenigstens nervten ihn hier weniger Leute als im Himmel. Der Gedanke war kaum zu Ende gedacht, als ein schrilles Quietschen, gefolgt von lautem Klirren, den Straßenlärm übertönte. Tyne zuckte zusammen und sprang auf, um sich nach der Ursache umzusehen. Unfälle waren nichts Besonderes, aber dieser Zug – er brauchte etwa zehn Sekunden die Feuerleiter hinab, um sich anschließend unauffällig durch das Chaos zu schieben. Diese plötzliche Energie – das war kein leichtes Aufflackern. Der Astralraum hatte gebebt, als der Zug kreischend zum Stehen kam und seine Glasfenster zerbarsten. Es war die Signatur eines Engels, die seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Die eines Dämons allerdings auch. Doch das konnte nicht sein! Das war schlicht und ergreifend unmöglich. Seine Schritte lenkten ihn weiter zum Zug. Zum allgemeinen Tumult dort, während er der Spur folgte. Sie ging von einer jungen Frau aus, über die sich gerade ein Fremder beugte.

 

Das heruntergefallene Glas hatte dafür gesorgt, dass die unter der Hochbahn verlaufende Straße völlig verstopft war. Menschen liefen panisch umher, Autos parkten mitten auf der Straße. Splitter hatten Reifen zerstochen und für zahlreiche Unfälle gesorgt. Das Chaos war perfekt. Genau das richtige Umfeld, um einen, ja was eigentlich? Ein Nephilim war sie nicht, das konnte sie nicht sein. Ihre Aura war nicht reinweg die eines Engels, gemischt mit der eines Menschen. Da war etwas Dunkles in ihr. Etwas, das so nicht sein konnte. Allerdings musste Tyne um das herauszufinden ohnehin erst einmal auf die Gleise kommen, und die lagen von seinem momentanen Standort aus ungefähr fünf Meter über ihm. Natürlich könnte er fliegen. Aber dann konnte er auch gleich eine Leuchtrakete zünden, um auf sich aufmerksam zu machen. Also blieb ihm nur noch die Möglichkeit, einen der Betonpfeiler hinaufzuklettern.

Wenn er doch nur bis dorthin gekommen wäre. Aus der Masse löste sich eine ihm unbekannte Gestalt, die er jedoch als einen Diener des ehemaligen Lichtbringers erkannte. Er musste diese Frau erreichen, bevor der Andere es tat. Tyne beschleunigte seine Schritte. Er hätte den Pfeiler fast erreicht, als er mit einem heftigen Ruck zu Boden gestoßen wurde. Die Gestalt war ihm in den Rücken gesprungen. Ledrige, schwarze Flügel schlugen um sich. Die Krallen, die er selbst in seiner humanoiden Form besaß, bohrten sich tief in Tynes Fleisch, was ihm ein dunkles, schmerzvolles Knurren entlockte. Goldenes Blut tränkte seine Kleidung, aber der Dämon ließ nicht locker.